Was wird dann aus Hansi?
Frau Hermanns hat Angst. Keine Angst, zu fallen. Keine Angst vor Einbrechern oder Stromausfall oder vor einem neuen Krieg. Frau Hermanns hat Angst vor sich selbst. Davor, dass sie manchmal nicht mehr weiß, warum sie aus dem Haus gegangen ist. Davor, dass manchmal Lebensmittel in ihrem Schrank stehen, von denen sie sicher ist, sie nicht gekauft zu haben. Und davor, was aus Hansi wird, wenn sie auf ihre Tochter hört und endlich in ein Altenheim zieht.Hansi ist ein Wellensittich, und er ist das Beste, was Frau Hermanns hat. Wenn sie morgens die Gardinen zurückzieht und die Decke von seinem Bauer hebt, fängt er laut zu zwitschern an. Und wenn Frau Hermanns vergisst, ihm neues Futter zu geben, ruft er so lange, bis sie sich daran erinnert. Dann stürzt er sich hungrig auf seinen Napf, und Frau Hermanns hat ein schlechtes Gewissen. Aber wenn Hansi wieder satt ist, ist er ihr nicht böse. Stattdessen fliegt er aus seinem Käfig, sobald sie das Türchen öffnet, und flattert zu ihr auf den Küchentisch. „Hansi!“, ruft er dann laut, und knabbert an den Zeitschriften. Früher hat Frau Hermanns immer die Kreuzworträtsel gelöst, aber die winzigen Rätselfelder kann sie schon lange nicht mehr lesen. Frau Fuchs aus dem Kiosk weiß das nicht, denn Frau Hermanns kauft immer noch jeden Montag ihre Zeitschriften – für Hansi, damit er die Ecken annagen kann.
***
„Niemand klaut eine Packung Haferkekse, Mutti!“ Marianne klingt ungeduldig. Sie ist in letzter Zeit immer ungeduldig, wenn sie ihre Mutter besucht. „Doch. Die Tochter von Frau Meier, aus der Wohnung unter mir! Wer weiß, was die für Schabernack treibt mit einer alten Frau!“, beharrt Frau Hermanns. Marianne verdreht die Augen. „Eva ist 23. Und sie klaut mit Sicherheit keine Kekse.“ Unwirsch pustet Marianne eine Feder von den bunten Katalogen. „Hast du dir die Prospekte mal angesehen?“ Frau Hermanns sagt lieber nichts mehr. „Was?“, ruft sie. „Du weißt doch, dass ich nicht mehr so gut höre, Liebes.“ Schnell kramt sie in der Küchenschublade. Marianne runzelt die Stirn. „Ich mach mir doch nur Sorgen um dich.“, sagt sie, sanfter diesmal.
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„Was wird denn dann aus meinem Hansi?“, fragt Frau Hermanns verzweifelt. „Der Vogel ist mir im Moment herzlich egal! Du hättest fast die ganze Bude abgefackelt! Ich hätte auf Thomas hören und die Kindersicherung im Herd rein machen sollen!“ Mariannes Stimme klingt ungewohnt schrill. „Mama…“ Anne legt die Hand auf Mariannes Schulter. Ihre Oma tut ihr Leid. „Ich frag mal meine Kommilitonin, die Kathrin, du weißt schon, aus dem Proseminar. Ich glaub, die hat auch Vögel. Vielleicht will die Hansi nehmen.“ Sie wirft Frau Hermanns einen mitleidigen Blick zu. „Bestimmt kann sie ihn nehmen.“ Frau Hermanns hört nicht zu. „Wo hast du denn das Teeservice hingetan, Liebes? Das grüne mit den Blüten? Das stand doch sonst immer im Schrank!“
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„Guten Morgen, Frau Hermanns! Kommen Sie mit in den Esssaal? Heute ist doch die Weihnachtsaufführung von der Grundschule!“ Frau Hermanns blickt kaum auf. „Was?“, fragt sie. „Die Kinder singen heute!“, wiederholt die Schwester, lauter diesmal. „Ach so.“ Frau Hermanns starrt schon wieder aus dem Fenster. „Dann eben nicht…“, murmelt die Schwester und schließt die Tür hinter sich. Frau Hermanns merkt es nicht einmal.
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„Ach Anne, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee war. Das ist doch nur Stress für die Oma.“ Anne müht sich mit dem Rollstuhl ab. „Mensch Mama, sei einfach still. Es wird ihr bestimmt gut tun.“, antwortet sie genervt. „Klingel lieber. Das Ding ist mir im Weg.“ Marianne seufzt. Sie wirft ihrer Mutter einen zweifelnden Blick zu. „Wo gehen wir hin?“, fragt diese, sie klingt fast panisch. Sie fragt es schon zum dritten Mal.
Endlich wird die Tür geöffnet. „Hi Anne! Guten Tag, Frau Schneider. Guten Tag, Frau Hermanns!“ Kathrin schüttelt Frau Schneider die Hand. Frau Hermanns greift nicht nach der ausgestreckten Hand. „Das ist aber nett, dass Sie Hansi mal besuchen kommen.“
Frau Schneider lächelt unsicher. Sie fühlt sich nicht ganz wohl in ihrer Haut.
„Och, die haben’s aber nett!“, stellt Anne fest, als sie ins Wohnzimmer kommt. „Guck mal, Oma!“ „Was?“ Frau Hermanns blickt kaum auf. „Machen die nicht viel Krach?“, fragt Frau Schneider mit einem ungläubigen Blick auf die sechs Wellensittiche, die neugierig vom Volierendach auf die Besucher herunter blicken. „Och… naja, aber ich find’s eigentlich ganz süß.“, antwortet Kathrin. Einen Moment herrscht Stille. Alle gucken Frau Hermanns erwartungsvoll an. „Guck mal, Oma. Da ist dein Hansi. Schön hat er’s hier, nicht?“ Frau Hermanns antwortet nicht. Erst als Anne sie an der Schulter berührt, guckt sie kurz hoch. „Sie kann das doch gar nicht mehr sehen.“, meint Marianne. Sie bereut, dass sie sich überhaupt zu diesem Besuch hat überreden lassen. Aber Kathrin kniet sich neben den Rollstuhl. „Nehmen Sie mal, Frau Hermanns. Der Hansi freut sich bestimmt, Sie wieder zu sehen!“, sagt sie leise, und legt ein Stück Kolbenhirse in die dünnen, faltigen Hände. Frau Hermanns schaut etwas hilflos in die Richtung, aus der das aufgeregte Tschilpen kommt. Orientierungslos huscht ihr Blick über die Vögel hinweg.
Aber Hansi hat keine Schwierigkeiten mit den Augen. Er zögert nur ein paar Sekunden. Dann schwirren seine Flügel so schnell, dass Marianne zusammenzuckt. Frau Hermanns Hand zittert. Aber das stört Hansi nicht. Gierig rupft er die winzigen Körner aus dem Hirsekolben. Die anderen Wellensittiche gucken skeptisch. Dann fliegt Mia, eine quietschgelbe Henne, neben ihn auf die Hand und macht sich über das Futter her. Hansi blickt auf und guckt Frau Hermanns aus seinen schwarzen Knopfaugen an. „Hansi!“, quietscht er, undeutlich, aber man kann es verstehen. Frau Hermanns sagt nichts. Aber sie sieht plötzlich sehr friedlich aus. Auf ihrem Gesicht zeigt sich ein Lächeln, das ihre Tochter schon lange nicht mehr gesehen hat. „Hansi.“, flüstert sie. Stumm laufen Marianne die Tränen über die Wangen. „Entschuldigung“, murmelt sie zu Kathrin. Aber die lächelt nur traurig. „Hansi hat jetzt eine Freundin, Frau Hermanns. Sie verstehen sich prima“, sagt sie leise. Alle blicken auf die beiden Vögel, die bei der alten Frau auf der Hand sitzen. Denen ist so viel Aufmerksamkeit nicht ganz geheuer. „Hansi!“, ruft Hansi laut. Es scheint fast, als habe er das Gefühl, etwas sagen zu müssen.
***
„Nett, dass Sie gekommen sind.“, sagt Marianne heiser. Kathrin antwortet nur mit einem Nicken. Es ist kalt und stürmisch für die Jahreszeit, obwohl die Sonne scheint. Viele Leute stehen nicht auf dem kleinen Friedhof. Anne drückt die Hand ihrer Mutter, die lautlos schluchzt. Kathrin steht stumm daneben. Sie hat einen kleinen Blumenkranz in der Hand. Sie wartet, bis die anderen Trauergäste ihre Sträuße und Kränze neben den Sarg gelegt haben, ehe sie ihren dazu legt und schnell etwas zwischen die Efeublätter steckt. Sie ist nicht sicher, ob Frau Hermanns Familie das komisch fände. Dann beeilt sie sich, Anne und deren Mutter einzuholen.
Der Wind lässt die Blätter der alten Bäume rauschen. Brausend fährt er über die Gräberreihen hinweg und zaust die zahlreichen Blumensträuße. Die kleine Vogelfeder löst sich aus dem Gesteck und wird torkelnd in die Luft gerissen. Höher und höher schraubt sich Hansis Feder im Aufwind, bald ist sie nur noch ein winziger grüner Fleck vor dem Blau des Himmels und den rasch dahin ziehenden Wolken.
Mühelos entfernt sie sich von der Erde, entkommt der Schwerkraft so leicht und spielerisch, wie es nur eine Vogelfeder im Wind kann - oder eine Seele, die sich wieder auf die Reise macht.
Der Artikel wurde am 16.05.2011 von Blueberry veröffentlicht in der Kateogie: Geschichten.
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Alice aus München (16.05.2011 - 18:57)
wow.... mir kamen echt die tränen :(
Vicky aus Bergisch Gladbach (17.05.2011 - 17:57)
Wirklich rührende Geschichte! Finde ich total toll und musste sogar ein paar Tränen verdrücken....
Elena aus Hessen (17.05.2011 - 23:14)
Blueberry, du hast dich selbst übertroffen! Das ist wunderschön geschrieben!
Blueberry aus AC (17.05.2011 - 23:52)
Danke für die lieben Kommentare, da wird man ja ganz rot!
Die Geschichte ist schon ein paar Monate alt, aber ich habe sie jetzt hier rüber gepackt, weil sie hier irgendwie besser passt...
Die Geschichte ist schon ein paar Monate alt, aber ich habe sie jetzt hier rüber gepackt, weil sie hier irgendwie besser passt...
BaluUndMucki aus Ostholstein (11.04.2012 - 23:18)
Jetzt erst entdeckt... Was für ein text... da kommen einem die Tränen. Sehr gut geschrieben!