Ein Pfirsichköpfchen namens Bubi
Es heißt, dass Schönste im Leben seien die Begegnungen. Dabei scheint es nicht bedeutsam zu sein, ob sie zwischen den Menschen oder zwischen Mensch und Tier stattfinden. Entscheidend ist, welcher Zauber ihnen innewohnt. An besonderen Begegnungen erinnert man sich ein Leben lang. Sie müssen nicht von langer Dauer gewesen sein. Ein Herz kann auch in Sekundenschnelle erobert werden. Plötzlich sind die Gedanken wie gefesselt und man wird eins mit dem Schicksal des anderen, dessen Leid man ein stückweit teilt ebenso wie die Freude. Welcher Zauber das alles auch bewirken mag - er ist es, der mich jedes Jahr zu Beginn der Adventszeit zurückdenken lässt an ein ungewöhnliches Weihnachtsfest und an ein Pfirsichköpfchen namens Bubi.
„Sie müssen uns unbedingt besuchen kommen. Sie glauben gar nicht, was geschehen ist....“ Die aufgeregte Stimme am anderen Ende der Telefonleitung gehörte zweifelsfrei Schwester Martha. Die Ordensfrau hatte ich vor Monaten kennengelernt, als ich an einer Seminarreihe über Musik im Kirchenraum teilnahm. Das Thema sollte an vier Wochenenden, verteilt auf das Jahr, erarbeitet werden. Gerne erinnere ich mich an diese Wochenenden zurück, die wir in netter Runde in dem Bildungshaus eines alten Klosters verbrachten. Die Ruhe und Abgeschiedenheit tat uns allen gut. Fern von Konsumzwängen, Hektik und falschen Erwartungen waren wir für eine kurze Zeit auf das Wesentliche im Leben zurückgeworfen und lernten viel über ein himmlisches Thema: Musik.
Das Bildungshaus mit dem angrenzenden Kloster lag auf einem Berg, abgelegen von der Stadt. Es war Frühjahr als ich dort zum ersten Mal eintraf. Die Natur hatte sich so schön wie nie herausgeputzt. Die Bäume trugen schon ihr frisches Blattwerk und über uns strahlte der Himmel wolkenlos und blau. Einige Schwestern des Klosters waren zuständig für die Gästebetreuung und sorgten für unsere Mahlzeiten. So lernte ich auch Schwester Martha kennen. Beim Mittagessen kamen wir ins Gespräch und als sie hörte, dass ich Vogelhalterin bin, sagte sie zu mir: „Dann müssen Sie unbedingt unseren Bubi kennenlernen.“ Das musste man mir nicht zweimal sagen. Nach dem Essen folgte ich der Ordensfrau. Der Weg führte uns ans andere Ende des Flures. Dort gab es eine gemütlich eingerichtete Ecke. An einem hellen Platz nahe am Fenster stand ein mittelgroßer Papageienkäfig. Seinen Bewohner konnte ich nicht gleich erkennen. Zunächst dachte ich, der Käfig sei leer, denn es waren keine Geräusche zu hören. Doch als ich näher herantrat, saß ängstlich und traurig ein kleines Pfirsichköpfchen im hinteren Teil. Das war also Bubi. Die Schwester erzählte mir, dass er ihnen zusammen mit einer Partnerin vor Jahren geschenkt worden war. Doch die Henne starb gleich in der Anfangszeit. Das war wohl nunmehr vier Jahr her gewesen und seitdem war Bubi alleine. In den Erzählungen wurde es ganz offenkundig, wie sehr die Schwestern den kleinen Vogel liebten. Doch mich ergriff nur Traurigkeit. Vorsichtig versuchte ich die Schwester davon zu überzeugen, dass Bubi einsam war. Das hatte er auch zunehmend deutlich gemacht, indem er die Federn an seinem Bauch abgefressen hatte und dort nur noch ein grauer Fleck zu sehen war. Aber Unwissenheit verschließt unsere Augen, und so konnte oder wollte Schwester Martha es nicht sehen und meinte nur, das habe Bubi schon immer gehabt.
An den folgenden Seminarwochenenden führte mich mein Weg als Erstes zu Bubi. Immer wieder hatte ich versucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Doch er blieb am gleichen Fleck sitzen, gleichsam als sei er ganz mit der Stange verwachsen. Keinen Ton hatte ich seinem kleinen Kehlchen entlocken können und so hatte ich an keinem meiner Besuche jemals seine Stimme gehört. An einem Wochenende im November wurde die Seminarreihe beendet. Es gab keinen Anlass mehr, das Bildungshaus zu besuchen. Die weiteren Wege sollten sich von nun an für immer trennen. Mein letzter Abschied galt dem kleinen Bubi. Noch einmal drehte ich mich nach ihm um, als ich das Bildungshaus verließ. Das Bild vom Pfirsichköpfchen, das einsam in der Ecke seines Käfigs saß, wurde immer kleiner bis es endgültig aus meinem Blickfeld verschwand.
Das Jahr neigte sich seinem Ende zu. Es war kalt geworden und Schnee bedeckte die Straßen. Die Vorbereitungen für das anstehende Weihnachtsfest liefen auf Hochtouren. Auch ich dachte darüber nach, was ich meinen Lieben daheim zu Weihnachten schenken wollte. Bei einem Überangebot an Möglichkeiten und den damals sehr beschränkten finanziellen Mitteln war das kein leichtes Unterfangen. Und dann sollte das jeweilige Geschenk auch noch hundertprozentig ins Schwarze treffen. Zwei Wochen blieben noch. Meine letzte Begegnung mit Bubi lag nunmehr mehrere Wochen zurück. Der Alltag hatte mich mittlerweile wieder ganz in Beschlag genommen und insgeheim war ich wohl auch froh darüber, dass er die Erinnerung an Bubi verdrängte. Es schmerzte mich doch sehr, dass ich dem kleinen Pfirsichköpfchen nicht hatte helfen können. In Gedanken versunken saß ich an meinem Schreibtisch, als das Telefon klingelte. Mit dem Anruf von Schwester Martha hatte ich nicht gerechnet. Was mochte wohl der Grund für diese Aufregung und überströmende Freude sein? „Wir haben uns etwas zu Weihnachten geschenkt. Das müssen Sie unbedingt sehen. Wie wäre es, wenn Sie uns am Sonntag besuchten?“ Die Stimme von Schwester Martha überschlug sich. Es war ganz klar, dass sie mit der Überraschung nicht bis zu unserem Treffen warten konnte, und so platzte sie noch im Telefonat mit der Nachricht heraus. „Nein, nicht uns haben wir beschenkt, sondern Bubi. Bubi hat eine Partnerin bekommen. Sie heißt Mädi.“ Ich war überwältigt. Was war geschehen? Alle meine Worte hatten doch nichts bewirken können, und nun bekam Bubi endlich eine Partnerin. Das war wie ein Wunder. Die Schwester erzählte mir, dass ein Gast das Bildungshaus besucht hatte, der selber Papageien, darunter auch Pfirsichköpfchen, hielt. Auch er hatte auf die Schwestern eingeredet und sie endlich überzeugen können. Auf ihren Wunsch hin hatte er ihnen schließlich Mädi besorgt.
Die Tage vergingen nur sehr langsam, doch endlich kam der lang herbeigesehnte Sonntag. Kaum dass wir uns begrüßt hatten, eilten Schwester Martha und ich zu Bubi. Das Pfirsichköpfchen war kaum wiederzuerkennen. Eng zusammengeschmiegt saß er mit seiner Mädi auf einer Schaukel und konnte doch keine drei Minuten stillsitzen. Er schnäbelte unentwegt mit ihr, sprang dann zum Futternapf, um seiner geliebten Henne eine Erdnuß zu holen und küsste sie dann wieder über das ganze Gesicht. Als ich endlich meinen Blick abwenden konnte, sah ich Schwester Martha an. Ihr fröhliches Gesicht war blass geworden und mit tieftrauriger Stimme sagte sie: „Wenn wir das nur gewußt hätten, und jetzt sehen wir, was wir dem armen Bubi all die Jahre vorenthalten haben. Das tut mir im Herzen so weh.“ Ihre Worte machten mich sehr betroffen und schweigend sahen wir dem aufgeregten Bubi noch eine ganze Weile zu.
Das alles liegt nun viele Jahre zurück. Bubi lebt schon lange nicht mehr. Wieder sind die Menschen im Weihnachtsfieber und machen sich Gedanken, wie wohl das anstehende Fest gelingen möge. Wir beschenken uns gegenseitig, um unsere Liebe und Wertschätzung füreinander Ausdruck zu verleihen und unsere Gaben bewegen sich in den Begrenzungen des Machbaren. Doch manchmal öffnet sich der Himmel über einen von uns, erhebt ihn aus dem Schatten und beschenkt ihn mit Glückseligkeit. An jenem Weihnachtsfest fiel das Los auf den kleinen Bubi. Er bekam seine Mädi und mit Mädi zog das ganz große Glück in sein Leben.
Mädi überlebte Bubi. Sie musste sein Schicksal nicht teilen. Kurz nach Bubis Tod bekam sie ein anderes Pfirsichköpfchen zum Partner.
Der Artikel wurde am 15.12.2013 von veröffentlicht in der Kateogie: Geschichten.
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Daniela aus Berlin (15.12.2013 - 13:24)
Liebe Sweet,
eine traurige und wunderschöne Geschichte zugleich !
Ich danke dir dafür
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Ich danke dir dafür
Lea aus NRW (19.12.2013 - 14:03)
Das ist aber eine berührende Geschichte, und du hast sie wunderschön erzählt!