Indira - endlich auf eigenen Beinen stehen

Über 100 Wellensittiche gleichzeitig aus schlechter Haltung zu retten und die Vermittlung der Tiere zu organisieren, ist schon schwer genug. Sich obendrein um akut erkrankte Tiere aus der Gruppe zu kümmern, kostet Einiges an Kraft. Wen soll es da verwundern, dass die behandelnde Tierärztin beim Anblick eines schwer gehandicapten, jungen Wellensittich-Weibchens vom Einschläfern sprach? Aber erst sollte abgewartet werden und der nur wenige Wochen alte Vogel hatte Zeit, seinen Lebenswillen zu beweisen.

Dagi, eine der Retterinnen, schaute dem Weibchen tief in die Augen und sah darin einen unbändigen Überlebenswillen. "Wirst Du es schaffen, kleiner Welli?" - Diese Frage stellte sie der Junghenne, die ihrem besorgten Blick standhielt. Keck schaute sie in die Welt, wenn auch aus einer für Wellensittiche untypischen Perspektive. Der Grund dafür waren ihre ausgekugelten Hüften. Beide Beine standen seitlich ab und der Vogel lag ständig auf dem Bauch. Laufen und Klettern konnte das Weibchen nicht, sie robbte vorwärts über den Boden, und das allerdings mit viel Elan.

"Aber wie soll denn dieser Vogel sein Leben meistern? Ist es überhaupt ein Leben, permanent auf dem Bauch liegen zu müssen? Nur schwer zum Fressnapf zu gelangen? Wir sollten sie doch lieber einschläfern ..." Die Skepsis der Tierärztin war groß, aber Dagi konnte sie überzeugen, dem Vogel eine Chance zu geben, denn sie hatte eine Idee. Der Plan war: Der Sorgenvogel sollte in ein Zuhause ziehen, in dem man das Umfeld extra auf das Handicap abstimmen würde.

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Einige Wochen später sah ich zum ersten Mal in die Augen der jungen Vogeldame. Sie blickte vertrauensvoll, neugierig und voller Lebenslust durch mein Wohnzimmer. Wie schön sie war! Obwohl sie kaum mehr als zwei oder drei Monate alt war, hatte sie schon die Eleganz, die manche erwachsenen Hennen zeigen und denen alle Hähne zu Füßen liegen. Zumindest blitzte etwas von diesem gewissen Etwas zeitweise hindurch, wenn die gehandicapte Vogeldame versuchte, ihren Oberkörper ein wenig aufzurichten. Indira sollte sie heißen, das ist Sanskrit und heißt "Schönheit".

Tags zuvor war Indira gemeinsam mit einem einflügeligen Junghahn aus derselben Vogelgruppe zu mir gebracht worden. Andrea, eine sehr liebe Vogelfreundin, hatte die Beiden und noch viele weitere Wellis aus dem Raum Mannheim ins Ruhrgebiet chauffiert. Ich glaube, nicht nur ich bin ihr sehr dankbar dafür, denn meine gefiederten Neuzugänge wuchsen mir rasch ans Herz.

Obwohl Indira und ihr Freund Shiva (so nannte ich das Männchen) abgesehen von ihren Behinderungen gesund waren, durften sie vorerst nicht in mein Vogelzimmer einziehen. Ein Grund dafür war, dass ich mit Indira täglich mehrmals krankengymnastische Übungen durchführen musste, um ihre Beine zu mobilisieren. Unser großes Glück war, dass sie von Anfang an sehr neugierig, verspielt und anhänglich war, sonst wäre das intensive Training nicht möglich gewesen. Sie hatte sehr viel Spaß daran, an meinen Fingern herumzuturnen und von mir vorsichtig in eine stehende Position gebracht zu werden.

Bald waren erste Erfolge zu sehen. Der Greifreflex kehrte in beide Füße zurück, was ihr dabei half, sich festzuhalten. Sie konnte sich besser robbend fortbewegen, weil sie mit den Füßen am Untergrund zupacken konnte, und sie übte sich im Klettern. Das Fliegen wollte leider nicht so recht klappen, denn ihre Flügel blieben in den seitlich abstehenden Beinen hängen, weshalb Indira schnell wieder auf dem Boden landete. Für mich war jedoch wichtig, dass ihre Beine zusehends kräftiger und beweglicher wurden und Indira dadurch enorm viel Lebensqualität gewann.

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Der große Tag war gekommen: Gemeinsam mit ihrem Partner Shiva, den sie schon damals heiß und innig liebte, zog Indira ins Vogelzimmer ein. Mir war ein wenig flau im Magen, als ich sie auf den Boden setzte und quasi in ein selbst bestimmtes Leben entließ. Würde sie klar kommen? Würde sie sich verletzen, weil sie doch nicht gut genug klettern könnte? Das Vogelzimmer ist zwar behindertengerecht eingerichtet, aber Indiras Handicap ist extrem schwer und speziell. Ein Blick in ihre Augen wischte meine Ängste fürs Erste beiseite. Ihr Blick strahlte regelrecht, weil sie endlich wieder in einer größeren Vogelgruppe war und mit den anderen Tieren herumtoben konnte. Sie stürmte förmlich in ihr neues Leben, und Shiva war stets an ihrer Seite.

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Über zwei Monate ist es her, dass ich Indira und Shiva ins Vogelzimmer einziehen ließ. Ging ich anfangs noch mit einem mulmigen Gefühl zu den Tieren, weil ich befürchtete, die Kleine tödlich verunglückt oder schwer verletzt vorzufinden, so bin ich inzwischen völlig entspannt. Es hat mich selbst überrascht, wie gut sich Indira eingelebt hat. Unser intensives Training hat sich ausgezahlt, denn sie klettert geschickt umher und kann inzwischen sogar auf manchen Naturästen sitzen.

Oft sehe ich sie dabei, wie sie selbst versucht, ihre Beine aus der gespreizten Lage nach innen in eine natürliche Position zu bringen, um dann zumindest für einige Minuten mit hoch aufgerichtetem Oberkörper stehen zu können. Das ist zwar anstrengend, aber sie tut es freiwillig, was ich für ein gutes Zeichen halte. Wenn sie aufrecht steht, schaut sie ein wenig aus wie eine kleine Prinzessin, die auf ihre Untertanen blickt, so stolz wirkt sie dabei.

Zu den auf dem Fußboden stehenden Fress- und Trinknäpfen gelangt sie, indem sie sich flatternd fortbewegt. Dabei schlingert sie über den Boden, aber es wirkt nicht unkontrolliert, sondern gezielt. Mit der Frischkost hat sie es nicht so, hin und wieder wirft sie sich auf ein Salatblatt, legt sich hinein und knabbert dann genüsslich daran. Ist das Salatblatt feucht, wird bei der Gelegenheit dann auch gleich gebadet.

Indiras Leben im Vogelzimmer wäre sicher nur halb so schön, wenn da nicht die Liebe wäre. Die richtig große Liebe. Ihr Freund Shiva geht unglaublich sanft und zärtlich mit ihr um, er krault ihr oft das Köpfchen und füttert sie regelmäßig. Abends kuschelt er sich auf ihrer Korkliege eng an sie. Ohne direkten Körperkontakt zu schlafen, kommt für die beiden Vögel nicht in Frage.

Mit den anderen Wellensittichen versteht sich Indira blendend, den Katharinasittichen hat sie gleich gezeigt, wer die Hosen anhat. Kurz nach ihrem Einzug ins Vogelzimmer hat sie drei auf einen Streich von der Kolbenhirse verjagt, weil sie mutig auf Merlin, Costa und Rica losgegangen ist. Sogar Bianca, der vierte Katharinasittich, piepste entrüstet, als ihre Freunde angegriffen wurden und die Flucht ergriffen.

Ich möchte Indira nicht mehr missen, auch wenn ich nach wie vor regelmäßig mit ihr trainieren muss. Diese Trainingseinheiten genießen wir beide sehr und anschließend legt sie sich in meine Hand, um sich das Köpfchen kraulen zu lassen. Shiva, der eifersüchtig über alles wacht, kommt dann angerannt und legt sich neben sie, damit ich ihn ebenfalls kraulen kann. Und mal ehrlich: So etwas tut man doch wirklich gern, damit ein gehandicaptes Vögelchen auf eigenen Beinen stehen kann. ;-)