Vorzähmen? – Nein Danke!

Glücklicherweise hat es sich mittlerweile bei vielen zukünftigen Wellensittichhaltern herumgesprochen, dass Sittiche soziale Tiere sind, die die Gesellschaft von Artgenossen brauchen, um rundum zufrieden zu sein. Da sich trotzdem viele Menschen zutrauliche und anhängliche gefiederte Hausgenossen wünschen, empfehlen einige Züchter, erst einen der Vögel ins Haus zu holen, dessen Vertrauen zu gewinnen und dann, wenn der Wellensittich sich eingelebt und Zutrauen gefasst hat, einen zweiten dazu zu setzen.

Dennoch sollte man sich fragen, ob das „Vorzähmen“ wirklich notwendig erscheint – und ob es überhaupt sinnvoll ist. Bringt es den gewünschten Effekt? Und: Wie fühlt sich der zuerst geholte Wellensittich dabei?

Der Vogel wird höchstwahrscheinlich das erste Mal in seinem Leben von seinen Artgenossen getrennt sein. Er kennt das Alleinsein nicht und ein fehlender Partner wird ihm die Eingewöhnungszeit bei seinem neuen Halter erschweren. Alles ist neu für ihn und macht ihm Angst, aber es ist niemand da, der diese Angst mit ihm teilt und ihn aufbauen könnte. Außerdem weiß der Wellensittich nicht, dass ihm noch ein Artgenosse dazu gesellt werden soll. Und selbst wenn er das wüsste, würde er dieses Vorgehen seines Halters wohl kaum verstehen.

Auch die Behauptung, ein einzelner Wellensittich würde schneller zahm, muss kritisch hinterfragt werden. Es ist wahr, dass sich Vögel, die alleine gehalten werden, oft enger dem Menschen anschließen. Das geschieht aber in der Regel nur, weil die Schwarmtiere dringend Kontakt suchen – notfalls mit dem einzigen zur Verfügung stehenden Partner, dem Menschen. Außerdem ist es auch gut möglich, dass sich das Tier trotz Einsamkeit nicht dem Menschen zuwenden will, unabhängig davon, ob es alleine ist oder nicht, bleibt es sein Leben lang scheu und zurückhaltend. Für einen solchen Wellensittich ist das Fehlen eines Vogelpartners umso schlimmer.

Bleibt der bereits gezähmte Welli trotz Partner zahm?

Die nächste Frage, die sich dann viele stellen, ist, ob der zuerst geholte Wellensittich auch ja zahm bleibt, sobald ein Artgenosse dazu kommt. Darauf gibt es keine pauschale Antwort, denn das ist immer abhängig vom Tier selbst. Es gibt Vögel, die ihren neuen Partner mit dem gewonnenen Zutrauen anstecken und welche, die sich (vorerst) gänzlich vom Menschen abwenden. Die Sorge, dass der Vogel, der die erste Zeit allein war, seine Zahmheit wieder verliert, darf aber keinesfalls dazu führen, dass er ein ewiges Leben in Einzelhaltung fristen muss!

Bleiben Wellis im Schwarm wirklich scheu?

Umgekehrt befürchten viele zukünftige Wellensittichhalter, dass ihre Vögel, wenn sie von Anfang an zusammen sind, immer scheu bleiben. Obwohl diese Behauptung in vielen alten Tierratgebern noch zu lesen ist, kann man sie getrost als Gerücht abtun. Wer das Vertrauen eines einzelnen Sittichs gewinnen kann, schafft das auch bei zwei oder mehr Vögeln. Ob ein Welli zutraulich wird oder nicht, hängt vor allem von seinem Charakter und der Zeit und Geduld ab, die vom Halter für ihn aufgebracht wird.

Es gibt zahlreiche Wellensittichbesitzer, die bestätigen können, dass ihre Sittiche, obwohl sie keinen einzigen Tag alleine waren, schnell und problemlos zutraulich geworden und auch geblieben sind. Tatsächlich ist es sogar häufig so, dass zwei Tiere gleichzeitig sich gegenseitig ermutigen, sich auf die Annäherungsversuche ihrer Federlosen einzulassen. Sobald sich der Erste traut, ziehen die Schwarmgenossen in der Regel nach, und spätestens der Futterneid ermutigt auch die schüchterneren Vögel, von der angebotenen Hirse zu naschen.

junge Wellensittiche fressen aus der Hand

Diese Zwei waren von Anfang an zusammen und haben ihre Scheu vor dem Menschen gemeinsam überwunden.

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Einen weiteren Nachteil des Vorzähmens stellt die Vergesellschaftung und die zweifache Eingangsuntersuchung beim Tierarzt dar: Zieht der zweite Wellensittich später ein, so muss man auch ein zweites Mal zum Tierarzt und anschließend die Vögel vorsichtig aneinander gewöhnen. Wenn man beide Vögel gleichzeitig ins Haus holt, müssen beide nur einmal zum Eingangscheck, und eine Vergesellschaftung entfällt, weil sich die beiden Tiere sowieso schon kennen.

Zusammengefasst kann man sagen, dass die Praxis des Vorzähmens völlig unnötig und überholt ist, da sie sowohl dem Halter mehr Aufwand als auch dem ersten Vogel mehr Angst und Einsamkeit beschert. Die Gegenwart der neuen „Federlosen“ erscheint für das Tier mit einem Artgenossen an der Seite schon gleich weniger erschreckend, die beängstigende Stille wird erfüllt von vertrautem Gezwitscher und die zwei Tiere überwinden ihre anfängliche Angst vor dem neuen Zuhause wesentlich schneller.

Jeder, der mit dem Gedanken spielt, sich Wellensittiche ins Haus zu holen, sollte deshalb gleich beide Vögel zusammen einziehen lassen – denn es gibt absolut nichts, was dagegen spricht. Im Gegenteil: Die Vorteile überwiegen, sowohl für Mensch als auch Tier.

zwei Wellensittiche auf der Hand

Auch ältere Wellensittiche verlieren oft die Scheu vor dem Menschen, wenn sie einen Artgenossen haben, der sie dazu ermutigt.

 

Blueberry